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Wegen des schönen Wetters schien jeder in guter Stimmung zu sein. Auf den Bänken unterhielten sich die Menschen heiter und angeregt. Diejenigen, die allein saßen, blinzelten lächelnd in die Sonne. Willem ging zuerst am Denkmal Lord Hollands vorbei, dann um den Kyoto Garden herum Richtung Spielplatz. Er setzte sich auf den Rasen, direkt in die steil stehende Sonne, legte sich bald ausgestreckt hin und schlief ein.
»Lass das, Stupid! Lass das, Stupid! Komm sofort her!« Mehr unbewusst als bewusst nahm Willem eine aufgeregte Mädchenstimme wahr. »Stupid! Nein, habe ich gesagt. Komm sofort hierher!«
Irgendetwas Feuchtes spürte er an seinem Ohr, und er roch etwas Unangenehmes. Willem öffnete die Augen und erschrak. Ein Hund, ein junger Golden Retriever, schnüffelte an ihm herum. Auch das Mädchen, das immer noch »Lass das, Stupid!«, rief, war nun ganz nah. Es fasste den Hund am Halsband, um ihn von Willem wegzuziehen. Doch der Hund schnüffelte weiter, fand dann aber eine neue Fährte, der er quer über den Rasen folgte. Noch bevor er wusste, wie er auf die Situation reagieren sollte, war das Mädchen mit einem »Entschuldigung« aus seinem Blickfeld verschwunden. Willem hatte es sogleich erkannt.
Vorsichtig schaute er sich um. Er konnte Hewitt nirgendwo entdecken. Er stand auf, strich mit der Hand über seine Hosenbeine, als wollte er Grashalme entfernen, und zog sein sandfarbenes Leinenjackett über, auf dem sein Kopf gelegen hatte. Er schaute sich noch mal genauer um. Aber nur das Mädchen sah er wieder. Es rannte auf der anderen Seite der Wiese, achtzig oder sogar hundert Meter von ihm entfernt, immer noch dem Hund hinterher.
Doch Hewitt war weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen fiel ihm eine Frau auf, die auf einer der Bänke saß. Ihre Haltung wirkte völlig unnatürlich. Sie hatte sich nicht an die Bank angelehnt, sondern hielt den Rücken durchgedrückt, kerzengerade. Ihre Hände wiederum lagen flach auf ihren Beinen, knapp oberhalb der Knie. Wie eine Sphinx sah sie aus, beinahe unlebendig. Ihr schmales ovales Gesicht schien völlig ebenmäßig. Nur ihren kleinen, aber vollen Mund umspielte ein bittersüßer Zug tiefer Enttäuschung. Doch was ihm am meisten auffiel, waren ihre Haare, eine Haarpracht aus blonden Locken, die sie mit einem dunkelblauen Samtband lose zusammengebunden hatte. Trotz Jeans und einer einfachen hellblau-weiß karierten Bluse strahlte sie eine Eleganz aus, als ob sie gerade für ein Modejournal posierte.
Willem näherte sich ihr langsam, vorsichtig, als würde er ganz zufällig in ihre Richtung gehen. Da kam Hewitts Tochter angelaufen und baute sich vor der Frau auf.
»Langweilst du dich nicht?«
Es war das Mädchen, das die Frage stellte. Willem hatte es deutlich gehört. Sie musste also Anne-Marie sein, Hewitts Frau und die Mutter seiner Tochter. Statt einer Antwort schüttelte sie nur mit dem Kopf. Während ihre Tochter vielleicht sieben oder acht Jahre sein mochte, hatte sie die Dreißig knapp überschritten. Dennoch wirkte sie kaum kindlicher als ihre Tochter, was vor allem an der angespannten Ängstlichkeit in ihren leicht mandelförmigen Augen lag.
Willem war neugierig. Er schlenderte scheinbar teilnahmslos weiter auf sie zu. Er konnte sie, ohne aufzufallen, im Vorbeigehen nur für einen winzigen Augenblick ansehen. Doch dieser kaum messbare Moment reichte aus, um sie ganz zu erfassen, sie ganz in sich aufzunehmen. Sie wirkte aus der Nähe noch schöner, noch reizvoller, ganz und gar vollkommen.
Ihr leichtes Make-up, das die Ebenmäßigkeit ihrer Züge betonte, ihre langen dunklen Wimpern über den grünen Augen, die dunklen Augenbrauen, die sich deutlich von ihrem blonden Haar absetzten – nichts entging ihm. Und keine Einzelheit würde er jemals vergessen.
Willem überlegte einen Augenblick, ob er nicht umkehren sollte, um sich einfach neben sie auf die Bank zu setzen. Aber er traute sich nicht. Was könnte er ihr schon sagen? Sie war Hewitts Frau! Willem ging weiter, sah noch einmal das Mädchen, das noch immer seinem Hund Befehle erteilte, die er nicht befolgte. Verwirrt eilte er nach Hause.
Er erwachte früh. Er hatte kaum geschlafen. Stundenlang hatte er wach gelegen. Seine Abneigung gegen Hewitt war noch gewachsen, seit dem Augenblick, als er Anne-Marie, die Sphinx, wie er sie seinen Gedanken nannte, im Holland Park gesehen hatte. Er musste Hewitt verletzen. Jetzt erst recht. Er verdiente es, weil er sie nicht verdiente. Willem erinnerte sich an die zahllosen Affären, die Hewitt in den Zeitungen nachgesagt wurden. Es schien ihm völlig unbegreiflich, wie er eine Frau wie Anne-Marie betrügen konnte. Sie war mehr als schön, sie war unvergleichlich, überirdisch, göttlich. Oder redete er sich alles nur ein? Er musste sie wieder sehen. Er war neugierig, ob sie die gleiche Wirkung auf ihn ausüben würde, wenn er ihr erneut begegnete. Oder war alles nur Selbsttäuschung, eine fixe Idee? Er musste sie einfach wieder sehen.
Er stieg in sein Auto und fuhr den fast halbkreisförmigen Eardley Crescent hinunter und bog an der nächsten Ecke in die Warwick Road links ein. Die Warwick Road war laut, schmutzig und hässlich und wurde rund um die Uhr vom innerstädtischen Verkehr als Tangente benutzt. Hinter der Kensington High Street schwenkte er aufs Geratewohl in die nächste Straße rechts ein. Er wusste nicht genau, wie es von hier aus weiterging. Er folgte ganz seinem Gefühl, das ihm sagte, er müsse einmal den gesamten Holland Park umfahren.
Er schlängelte sich durch einen Wirrwarr von Straßen und Sträßchen und musste wegen der vielen Einbahnstraßen manchen Umweg nehmen. Es störte ihn nicht. Er hatte fast Angst, zu früh sein Ziel zu erreichen, zu lange auf sie warten zu müssen. Zudem gehörte nach seinem Dafürhalten die Gegend rund um Holland Park zu den schönsten Teilen Londons. Zeilen mit puppenstubenartigen Häusern, alle blitzblank, wechselten sich mit freistehenden Prachtbauten ab. Den Wohlstand hier fand er gediegener als etwa in Chelsea mit seinem leicht snobistischen Touch. Er war sogar ein wenig stolz darauf, dass Anne-Marie ausgerechnet hier wohnte. Nach weiteren zehn Minuten Irrfahrt stand er in einer Entfernung von etwa einhundertfünfzig Metern vor ihrem Haus.
Es tat sich nichts. Sowohl der silberne BMW als auch der blaue Range Rover standen dort, wo sie das letzte Mal gestanden hatten. Willem kurbelte das Schiebedach auf, und ließ sich seine Stirn von der Morgensonne wärmen. Gerne hätte er jetzt eine Zigarette geraucht. Aber er hatte keine Packung dabei. Das war auch gut so. Mittlerweile rauchte er nur manchmal im Pub oder im Café, und war sehr froh, nicht mehr vom Nikotin abhängig zu sein. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb acht. Er war offensichtlich zu früh.
Endlich um kurz nach acht Uhr öffnete sich die blaue Eingangstür. Die Tochter sprang heraus, rannte zum Range Rover, dessen vier Blinker mit einem Jaulen kurz aufleuchteten. Im selben Augenblick erschien Anne-Marie. Sie sah bezaubernd aus. Sie trug enge Jeans, flache Ballerinas und einen hellen weiten Wollpullover. Ein rotes Tuch mit weißen Punkten hatte sie sich wie ein Stirnband um den Kopf gebunden.
Sobald das Mädchen im Fond saß, fuhr sie mit laut aufheulendem Motor los. Erst links, dann rechts, dann waren sie auf der Kensington High Street, die Anne-Marie Richtung Hyde Park entlang raste. Kurz vor der Royal Albert Hall nahm Anne-Marie eine scharfe Rechtskurve in den Queen’s Gate, den sie mit sicherlich über vierzig Meilen hinunter fegte, auf South Kensington zu. Dann bog sie in die Old Brompton Road verkehrswidrig rechts ein. Wiederum gegen die Verkehrsregeln fuhr Anne-Marie ihren Geländewagen mit Schwung auf den rechten Bordstein und hielt an, gegen den Verkehr und trotz eines durchgezogenen gelben Doppelstreifens auf der Fahrbahn.
Willem fuhr über die Kreuzung hinweg, drehte seinen Wagen und blieb an der Ecke stehen. Aus der hinteren Tür auf der Beifahrerseite krabbelte Patricia hinaus, schlug mit aller Kraft die Tür zu, bevor sie in einer schmalen Gasse verschwand. Ohne dass er sie sehen konnte, ahnte Willem, wohin sie gehen würde. Am Ende der Gasse war eine Schule, deren Namen er allerdings nicht kannte.
Wieder heulte der Motor des Range Rovers auf. Und wieder brauste Anne-Marie mit hoher Geschwindigkeit davon. Willem gefiel, wie Anne-Marie durch die Straßen raste, als ob ihr die Stadt, ja die ganze Welt, gehörte. Ganz anders als die verzagten Hühner, die sich voller Lebensangst am Lenkrad festkrallten. Gern wäre er Anne-Marie hinterher gejagt. Aber er folgte ihr nicht. Sie würde sicherlich wieder nach Hause fahren. Zudem war ihm das Risiko zu groß, von ihr in seinem ockergelben Mercedes bemerkt zu werden. Anne-Marie durfte ihn noch nicht entdecken.
Als Anne-Marie nach der nächsten Ampel abbog, fuhr Willem nach Hause. Einen Moment blieb er im Wagen sitzen. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Ganz leise nur, dass er selbst es kaum hören konnte, flüsterte er: »Ich liebe sie.«
Stunden später lief Willem die Gloucester Road unruhig auf und ab. Er hatte keine Ahnung, wann der Unterricht in englischen Schulen in der Regel endete. Es war halb zwei Uhr. Ein kleines Antiquariat hatte einen Tisch mit Billig-Angeboten auf dem Gehweg aufgebaut. Er vertrieb sich die Zeit damit, die abgegriffenen Taschenbuchausgaben durchzublättern. Ein paar Seiten lang folgte er einem Getriebenen und Verzweifelten durch Petersburg, eilte dann einer Zigeunerin durch das mittelalterliche Paris nach. Ein Pfund sollten die beiden Bände kosten. Dafür kann man nicht viel falsch machen, dachte Willem und kaufte sie. Er würde sie zu Hause zu den anderen stellen, die er irgendwann einmal lesen wollte.
Kaum hatte er den Laden verlassen, sah er den blauen Range Rover die Gloucester Road herunterkommen. Willem drehte sich schnell um, um nicht gesehen zu werden. Der Wagen bog direkt am Buchladen in die Clareville Street ein. Die enge Einbahnstraße bildete einen rechten Winkel zwischen Gloucester Road und Old Brompton Road, an der Anne-Marie ihre Tochter am Morgen abgesetzt hatte. Vor der Schule, die genau im Winkel des Sträßchens lag, stauten sich die Kombis und schicken Geländewagen der Mütter, die ihre Kinder einsammelten.
Willem schaute noch auf seine Armbanduhr, viertel nach zwei. Gerade kletterte Patricia wieder in den Fond des Wagens. Er konnte gerade noch seinen Blick an ihrem langen blonden Haar sättigen. Dann war Anne-Marie wieder verschwunden.